Arbeitsgruppe Annotation und automatische Analyse von Moralisierungspraktiken in verschiedenen Wissensdomänen
Überblick
Aktuelles
Tabelle
Kurzbeschreibung des Forschungsprojekts
In dem Projekt "Annotation und automatische Analyse von Moralisierungspraktiken" erstellen wir ein Datenset mit Texten aus verschiedenen Sprachen und Wissensdomänen, in denen Sprachhandlungen des Moralisierens annotiert werden.
Unter moralisierende Sprachhandlungen verstehen wir diskursstrategische Verfahren, in denen die Beschreibung von Streitfragen und erforderlichen Handlungen mit moralischen Begriffen enggeführt werden. Auf moralische Werte verweisendes Vokabular (wie beispielsweise “Freiheit”, “Sicherheit” oder “Glaubwürdigkeit”) wird dabei verwendet, um eine Forderung durchzusetzen, die auf diese Weise unhintergehbar erscheint und keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Dies sei anhand der folgenden Beispielannotation rechts exemplifiziert, in der das Hochwertwort “Sicherheit” eingesetzt wird, um eine Forderung bezüglich einer Obergrenze für Geflüchtete zu untermauern:
Im Rahmen des Projekts sollen Korpora mit Moralisierungsinstanzen aus verschiedenen Wissenbereichen, Textsorten, Wissenskulturen und Sprachen erstellt und mit (linguistischen) Merkmalen annotiert werden, die charakteristisch für die Beschreibung von Moralisierungshandlungen sind. Zu diesen Annotationskategorien gehören (vgl. die Beispielannotation oben):
- moralische Werte, wie sie von der Moral Foundations Theory (Haidt et al., 2012) kategorisiert werden (beispielsweise Care vs. Harm, Fairness vs. Cheating…)
- Die Rollen und Gruppenzugehörigkeiten der beteiligten Protagonist:innen
- Die kommunikative Funktion der Äußerung (nach Jakobson, 1979)
- die Explizitheit bzw. Impliztheit der mit der Moralisierung einhergehenden Forderung.
Zur Annotation verwenden wir das Tool INCEpTION (Link zu unserer Use Case Beschreibung rechts). Der entstehende Datensatz wird zur systematischen linguistischen Analyse sowie zur automatisierten Erforschung des Phänomens der Moralisierung genutzt - ein diffuses alltagssprachliches Konzept, das als Terminus der deskriptiven Linguistik operationalisiert werden soll.
Dabei sollen sowohl textsorten- als auch sprachvergleichendgearbeitet werden: Uns interessiert zum einen, welche linguistischen und funktional-pragmatischen Eigenschaften moralisierende Sprachhandlungen in verschiedenen Textsorten und Wissensdomänen aufweisen und was die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind. Zum anderen wollen wir herausarbeiten, welche sprachlichen Mittel und Funktionen Moralisierungshandlungen in verschiedenen Sprachen und Wissenskulturen auszeichnen.
Wir verfolgen dabei einen Mixed-Method-Ansatz, der sowohl qualitativ-linguistische Analysen als auch quantitativ-automatisierte Auswertungen der Daten umfasst: Im Rahmen der linguistischen Analyse stehen dabei die Detektion und systematische Auswertung sprachlicher Oberflächenstrukturen und semantischer Tiefenstrukturen moralisierender Sprachhandlungen sowie Korrelationsanalysen der verschiedenen Annotationskategorien im Vordergrund.
In Kooperation mit dem Heidelberger Scientific Softwarecenter sollen darüber hinaus basierend auf den annotierten Datensätzen automatisierte Modelle entwickelt werden, die diese Annotationskategorien für unannotierte Datensätze automatisch vorhersagen können. Erprobt werden sollen unterschiedliche Modelle wie etwa feature-basierte Architekturen, traditionelle Klassifikationsmodelle sowie überwachte und unüberwachte Deep Learning Verfahren.
Wichtige Ergebnisse des Projekts werden die Verfügbarmachung und Kuration der annotierten Datensätze, die Ergebnisse der systematischen linguistischen Analysen von Moralisierungshandlungen sowie die Modelle zur automatischen Analyse und Evaluation sein. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich der Fragestellung, welche Modelle und Methoden zur qualitativen und quantitativen Erforschung von Moralisierungen eingesetzt werden können, auf viele weitere komplexe geisteswissenschaftliche Forschungsfragen generalisieren lassen.
Team
Die Forschungsgruppe besteht derzeit neben der Projektleiterin Maria Becker aus sechs studentischen Hilfskräften und einer Praktikantin aus den Fachbereichen Sprachwissenschaft, Psychologie und Computerlinguistik.
Projektbezogene Veröffentlichungen
- Becker, M.: Die Rolle der Diskursgrammatik bei der Detektion und Analyse sprachlicher Praktiken (im Druck). In: Müller, M., Reisigl, M., Becker, M., Bender, M., und Felder, E. (Hrsg.): Diskursgrammatik. Berlin/Boston: De Gruyter.
- Becker, M., Reinig, I., Rehbein, I, und Ponzetto, S.: A Survey on Modelling Morality for Text Analysis. In: Findings of the Association for Computational Linguistics (ACL). Bangkok, Thailand, S. 4136–4155.
- Becker, M.: Wenn das Wichtigste unausgesprochen bleibt: Überlegungen zu Formen und Funktionen des Impliziten (2024). In: Attig, M, Jacob, K, Müller, M. und Vogel, F. (Hrsg.): Netz und Werk. Zur Gesellschaftlichkeit sprachlichen Handelns. Berlin/Boston: De Gruyter.
- Kiemes, C. und Becker, M.: Formen und Funktionen von Moralisierungen in der Gesundheitskommunikation (2024). In: Atayan, V., Choffat, D., Czachur, W., Felder, E., Pasques, D. (Hrsg.): Diskursanalytische Perspektiven auf medizinische Fachkommunikation im europäischen Kontext Schriften des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften (EZS). Heidelberg: Winter.
- Rodemer, R, Becker, M., Peykarjou, S. (2024): Wie ich das Kind zum Aufräumen bekomme – Moralisierungen in der Eltern-Kind-Kommunikation. In: Sprachreport 2/2024
- Becker, M., Felder, E. und Müller, M.(2024): Moralisierung als sprachliche Praxis. In: Felder, E., Nüssel, F. und Tosun, J. (Hrsg): Moral und Moralisierung. Neue Zugänge. Band 57 der Reihe Sprache und Wissen (SuW). Berlin/Bosten: De Gruyter, S. 123-152.
- Arendes, C. Becker, M., Felder, E., Große, S., Moos, T., Nüssel, F., Schlette, M., Schütz, N. und Zohlnhöfer, R. (2024): Moral und Moralisierung – Werkstattgespräch der beteiligten Disziplinen. In: Felder, E., Nüssel, F. und Tosun, J. (Hrsg): Moral und Moralisierung. Neue Zugänge. Band 57 der Reihe Sprache und Wissen (SuW). Berlin/Bosten: De Gruyter, S. 7-34.
- Becker, M./Felder, E./Müller, M.(2023): Moral und Moralisierung: Linguistische Zugänge zu einem diskursrelevanten Phänomen. In: Deutsche Sprache, Zeitschrift für Theorie, Praxis und Dokumentation 51. Jg. Heft 1/2023, S. 26-50.
- Becker, M./Brocai, B.(2023): Computationelle und manuelle Auswertung komplexer Textannotationen. Blogbeitrag auf DH Insights.
- Becker, M./Ananth, S./Kiemes, C.(2023): The Moral Dimensions of Health. Blogbeitrag auf DiscourseLab.
- Becker, M., Brocai, B. und Tapken, L.(2023): Detection and analysis of moralization practices across languages and domains. In: Trawiński B., Kupietz, M., Proost, K., Zinken, J. (Hrsg.): 10th International Contrastive Linguistics Conference. Book of abstracts. Mannheim: IDS-Verlag. S. 147-148.
- Becker, M. und Brocai, B. (2023): Annotation und Analyse von Diskursakteuren in sprachlichen Moralisierungshandlungen (Poster). Jahrestagung des Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen, Akademie der Wissenschaften, Heidelberg.
- Becker, M. (2023): Möglichkeiten der automatisierte Analyse komplexer Forschungsfragen aus den Digital Humanties (Poster). Eröffnungsfeier des Heidelberg Center for Digital Humanities (HCDH), Heidelberg.
- Becker, M./Brocai, B.(2023): Computationelle und manuelle Auswertung komplexer Textannotationen. Blogbeitrag auf DH Insights.
- Becker, M./Ananth, S./Kiemes, C.(2023): The Moral Dimensions of Health. Blogbeitrag auf DiscourseLab.
- Becker, M./Felder, E./Müller, M.(2023): Moral und Moralisierung: Linguistische Zugänge zu einem diskursrelevanten Phänomen. In: Deutsche Sprache, Zeitschrift für Theorie, Praxis und Dokumentation.
- Becker, M./Felder, E. (2022): Moralisierung zwischen den Zeilen: Auf den Spuren einer kommunikativen Praktik. In: Jubiläumsheft der Zeitschrift für Diskursforschung, S. 266-277.
- Becker, M., Kiemes, C., Tapken, L. (2022): Grammatik der Moralisierung (Poster). Jahrestagung des Forschungsnetzwerks Sprache und Wissen, Akademie der Wissenschaften, Heidelberg.
- Becker, M. (2022): Automatisierte Analyse komplexer Forschungsthemen aus den Geisteswissenschaften - Herausforderungen und Grenzen (Poster). 27. Deutscher Germanistentag, Paderborn.
Projektbezogene Vorträge
Tabelle
Kooperationspartner:innen
Tabelle
Förderung
Das Projekt wird seit Oktober 2021 im Rahmen der Exzellenzuniversität auf Vorschlag des Heidelberger Forums Digital Humanities (HFDH) und des Research Councils gefördert. Weitere Fördergelder stammen aus dem Young Marsilius Fellowship for Interdisciplinarity and Science Communication (YMFP) der Projektleiterin Maria Becker (Oktober 2021 - September 2022). Darüber hinaus haben wir eine Förderung vom Scientific Software Center (SSC) der Universität Heidelberg erhalten, die uns seit September 2022 bei der Entwicklung der computationellen Modelle zur automatischen Analyse von Moralisierungspraktiken unterstützen werden.