DFG-Projekt Faktizitätskonstruktion: Unterbestimmtheit als Motor von Fachkommunikation
In einem Forschungsteam mit der Paderborner Kollegin bearbeiten wir in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt (Sachbeihilfe) die Entstehung und Etablierung der psychiatrischen Fachsprache im Wechselverhältnis mit der juristischen Fachkommunikation in den letzten beiden Jahrhunderten. Es besteht eine Projektkooperation mit der Universität Paderborn.
Mitarbeiter in der Heidelberger Germanistik
Sven Bloching (Linguistik)
Kooperationspartner im Recht
(1) Prof. Dr. Andreas Deutsch (Leiter der Forschungsstelle Deutsches Rechtswörterbuch an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften)
(2) Prof. Dr. Jan Schuhr (Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg)
Beim Aufbau und Hosting der Forschungsdaten kooperiert das Projekt mit dem Discourse Lab am Fachgebiet Digitale Linguistik, Prof. Marcus Müller, TU Darmstadt.
Zusammenfassung
Das Forschungsvorhaben strebt die Untersuchung dynamischer Austausch- und Oszillationsprozesse zwischen psychiatrischer und juristischer Fachkommunikation vom 19. bis zum 20. Jahrhundert an, um daraus resultierende Faktizitätskonstruktionen fassbar werden zu lassen. Dabei sollen die in der psychiatrischen Diagnostik als dissoziale Persönlichkeitsstörungen bezeichneten Verhaltensauffälligkeiten als Aushandlungsgegenstände interfachlicher Kommunikation im Mittelpunkt stehen.
Diese Persönlichkeitsstörungen gehören seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur zum Grundbestand psychiatrischer Krankheitslehren, sondern werden auch als forensisch relevanter Gegenstand aufgegriffen und finden Eingang in die Rechtsprechung. Lange wurden sie dort als „seelische Abartigkeit“ bezeichnet. Heute spricht § 20 StGB hingegen von „einer schweren anderen seelischen Störung“. Trotz diachroner Variabilität und Umstrittenheit der Beschreibungen dieser Störungen greift das Recht dennoch auf ebendiese Beschreibungen zurück und akzeptiert sie als Faktum. Dies wirft die Frage auf, wie ein wissenschaftlicher Gegenstand angesichts seiner Strittigkeit und schwierigen Bestimmbarkeit konstituiert und wie das mit ihm verbundene Wissen im Zusammenspiel der verschiedenen Fachdisziplinen transformiert wird.
Das Forschungsvorhaben wird dahingehend den Wechselwirkungen zwischen den psychiatrischen Konstruktionen des Nicht-Normalen und ihren Bedeutungen für Recht und Rechtsprechung nachgehen. Dabei soll auch der bisher in der Fachsprachenforschung kaum konturierte Aspekt der Unterbestimmtheit als Motor der Fachkommunikation erfasst und reflektiert werden.
Einerseits wird damit exemplarisch die sukzessive Entwicklung einer Fachsprache als eigenständige Wissens- und Wissenschaftsdisziplin anhand der psychiatrischen Fachkommunikation zu dissozialen Persönlichkeitsstörungen nachvollzogen. Andererseits werden interfachliche Übernahmen sowie Weiterentwicklungs- und Beeinflussungsprozesse anhand des interdependenten Austausch- und Kommunikationsverhältnisses zwischen psychiatrischer und juristischer Fachkommunikation erfasst.
Summary in english
Constructing facticity: How underdetermination drives communication for special purposes
The research project aims at investigating dynamic processes of exchange and oscillation between psychiatric and legal communication from the 19th to the 20th century in order to get a hold of the resulting constructions of factuality. In doing so, the focus will be on the behavioral problems referred to as dissocial personality disorders in psychiatric diagnosis as objects of negotiation in interdisciplinary communication. Since the end of the 18th century, these personality disorders have not only been part of the basic body of psychiatric pathologies, but are also taken up as a forensically relevant subject and regularly find their way into jurisprudence. There, for a long time, they were referred to as mental abnormality. Today, however, § 20 StGB speaks of severe other mental disorder. Despite diachronic variability and controversy in the descriptions of these disorders, the law nevertheless resorts to these descriptions and accepts them as fact. This raises the question of how a scientific object – considering its disputed status and the difficulty of its determination – is constituted, and how the knowledge associated with it is transformed in the interaction of the various disciplines. Thus, the research project will investigate the interactions between psychiatric constructions of the non-normal and their meanings for law and jurisprudence. In this way, the aspects of underdetermination as a motor of technical communication, which have hardly been outlined in technical language research so far, will be captured and reflected upon. In this way, this approach will thereby exemplarily retrace the successive development of a technical language as an independent discipline of knowledge and science by means of psychiatric technical communication. In addition, the approach will record interdisciplinary adoption, further development and influence processes - namely on the basis of the interdependent exchange as a communicative relationship between psychiatric and legal specialist communication.