Forschungsprojekt (Re)Penser le libéralisme: Les idées d'Europe (1900–1950)

Projektleitung

Prof. Dr. Olivier Agard (Sorbonne Université, Paris, Frankreich)
Prof. Dr. Barbara Beßlich (Universität Heidelberg)
Prof. Dr. Cristina Fossaluzza (Università Ca' Foscari, Venedig, Italien)

Projektbeschreibung

Das internationale Kooperationsprojekt befasst sich mit Europa-Ideen, die in den Jahren 1900–1950 entstanden sind, insbesondere jedoch mit den philosophischen Ursprüngen, intellektuellen Konstellationen und literarischen Kontexten dieser Ideen. Zu diesem Zweck werden fiktionale, essayistische und weltanschauungsliterarische Texte analysiert, die die Reflexion über Europa, den Liberalismus und die Demokratie in einen größeren Zusammenhang mit Kulturdiagnosen der Moderne stellen. Gerade in der Zwischenkriegszeit zirkulieren nicht nur friedvolle und demokratische Europa-Ideen, sondern auch solche, die auf den Untergang der Großreiche 1918 mit kontinentalen Größenphantasien reagieren, die keinesfalls als demokratische Vorläufer der EU gelten können, sondern antiliberale und autoritäre Europa-Konzepte entwickeln, die von der Literatur nicht nur aufmerksam beobachtet und kommentiert, sondern teils auch in ihr entworfen werden. Wenn sich Schriftsteller kurz nach 1918 für ‚Europa‘ engagierten, so verstanden sie unter ‚Europa‘ oft etwas anderes als das, was ihnen germanistische Europa-Enthusiasten der 1990er Jahre dann anachronistisch gern an demokratischen und ‚westlichen‘ Absichten unterlegten. Deutschsprachige Europa-Ideen nach dem Versailler Vertrag waren aber keineswegs immer westlich konzipiert.

In den 1920er Jahren stießen die europäischen Initiativen zweier Österreicher auf großen Widerhall bei Intellektuellen und Schriftstellern. Richard Coudenhove-Kalergi gründete seine Paneuropa-Bewegung und Karl Anton Rohan startete das Konkurrenz-Unternehmen der europäischen Kulturbünde mit der Zeitschrift der Europäischen Revue. Coudenhove-Kalergi und Rohan waren Fürsprecher eines konservativen, antidemokratischen, ständisch sortierten, dem alten Reichs-Gedanken verpflichteten und katholisch überwölbten Europa. Europabegeistert waren in der Zwischenkriegszeit zudem auffällig oft Adlige, die nach den revolutionären Unruhen am Kriegsende in den europäischen Ländern nach alten übernationalen Ordnungen und ihrer Reformierbarkeit fragten. Bis zum Adelsaufhebungsgesetz von 1919 in Österreich war Coudenhove-Kalergi Graf und Karl Anton Rohan Prinz gewesen.

Das Projekt verfolgt einen intellektuellengeschichtlichen, literaturwissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Zugriff, von dem wir uns erhoffen, dass er in einen interdisziplinären Dialog mit anderen Ansätzen tritt, sei es von Historikern, Wirtschaftshistorikern oder Politologen, die am philosophischen, literarischen und intellektuellen Hintergrund von Europadebatten des frühen 20. Jahrhunderts interessiert sind.

Dieses Forschungsprogramm ist eng verbunden mit dem binationalen Masterstudiengang (double-degree) „Kultur – Literatur – Ideenkonstellationen“, der seit September 2019 in Paris und Heidelberg studiert werden kann.


Projekttreffen

6. bis 7. Dezember 2019, Sorbonne Université, Paris
Journée d'étude: Idée d'Europe et diagnostic culturel — AbgesagtIdée d'Europe et diagnostic culturel 

30. bis 31. März 2020 Università Ca' Foscari, Venedig
Giornate di studio: Conceptions de l'identité européenne / Concezioni dell'identità europea / Konzepte europäischer Identität — Verschoben wegen CoronaKonzepte europäischer Identität 

30. September bis 1. Oktober 2021, Universität Heidelberg
Journée d'étude: Liberalismus (Be-)denken. Konzepte europäischer Identität im frühen 20. Jahrhundert
Liberalismus (Be-)denken 

28. März bis 29. März 2022, Università Ca' Foscari, Venedig
Giornate di studio: Conceptions de l'identité européenne / Concezioni dell'identità europea / Konzepte europäischer Identität
Konzepte europäischer Identität 

29. September bis 1. Oktober 2022, Sorbonne Université, Paris
Colloque: Repenser l'Europe politique et économique: 1900–1950
Repenser l'Europe politique et économique : 1900–1950

 

Vorträge

25. Januar 2022, Universität Heidelberg
Prof. Dr. Reto Rössler (Europa-Universität Flensburg): ‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit. Autorschaft, Interkulturalität und das politische Imaginäre

1. Februar 2022, Universität Heidelberg
PD Dr. Florian Greiner (Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte): Liberal, antiliberal, total egal? Europaideen und -semantiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

28. Juni 2022, Universität Heidelberg
Prof. Dr. Tomislav Zelic (Universität Zadar): Deutsche Literatur zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer. Mediterrane Alteritäten in der klassischen Moderne am Vorabend des Ersten Weltkrieges

Tagungsberichte

Bérénice Palaric: Conception de l'Identité Européenne. In: Hypotheses (Juli 2022).

Hannah Schultes: Liberalismus (Be-)denken. Konzepte europäischer Identität im frühen 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 141 (2022), S. 307–311.

Larissa Wilwert: Tagungsbericht zur Journée d'étude „Liberalismus (Be-)denken. Konzepte europäischer Identität im frühen 20. Jahrhundert“, Heidelberg, 30. September bis 1. Oktober 2021. In: links. Zeitschrift für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft 22 (2022), S. 87–89.

Claudia Cippitelli / Giulia Frare: Tagungsbericht zur internationalen Tagung „Conceptions de l'Identité européenne / Konzept europäsicher Identität / Concezioni de l'identità europea II“, Venedig, 28. bis 29. März 2022. In: links. Zeitschrift für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft 22 (2022), S. 90–94.

Parallel zum Projekt entstandene Abschlussarbeiten

Tillmann Heise: Der Kulturbund, die Europäische Revue und die Schriftsteller. Antiliberale Ideen von Europa zwischen den Weltkriegen (Masterarbeit, Universität Heidelberg, betreut von Barbara Beßlich und Andrea Albrecht, 2019)

Sophie Lauster: „Europa den Europäern!“ – Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropa (1923) und seine Rezeption bei Heinrich Mann (Bachelorarbeit Germanistik, Universität Heidelberg, betreut von Barbara Beßlich und Bernhard Walcher 2019)

Marie Birken: Identitätskonstruktion und Identitätsdestruktion in Falk Richters Ich bin Europa. (Masterarbeit im binationalen Germanistik-Master mit der Sorbonne-Université, betreut von Sylvie Arlaud und Barbara Beßlich, 2021)

Aurélie Declercq: Das Ideal eines geistigen Europas im Spannungsfeld zwischen Tradition und Fortschritt. Eine Untersuchung zu den Europavorstellungen Werner Bergengruens, Rudolf Pannwitz’ und Reinhold Schneiders nach dem Zweiten Weltkrieg. (Masterarbeit im binationalen Germanistik-Master mit der Sorbonne-Université, betreut von Bernhard Walcher und Olivier Agard, 2021)

Tamara Klarić: Gottfried Benns Kunst und Drittes Reich. Zwischen Programmatik des Merkur und Ausdruckswelt. (Bachelorarbeit Germanistik, Universität Heidelberg, betreut von Bernhard Walcher und Marcel Krings, 2021)

Esther Mounier: Das Thema Europa bei Carl Schmitt (Masterarbeit im binationalen Germanstik-Master mit der Sorbonne-Université, betreut von Olivier Agard und Barbara Beßlich, 2022)