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Forschungsprojekt Texturen der ‚Gemeinschaft‘. Deutungskämpfe um eine deutsche Idee im europäischen Kontext (1918–1961)

Internationales und interdisziplinäres Forschungsprojekt in Kooperation mit der Sorbonne Université (Prof. Dr. Olivier Agard), der Università Ca' Foscari Venedig (Prof. Dr. Cristina Fossaluzza), der Université de Reims Champagne-Ardenne (Dr. Christian E. Roques) und der Universität Augsburg (Prof. Dr. Marcus Llanque).

George-Kreis, Heidelberg, Pfingsten 1919*

Projektbeschreibung

Gemeinschaft ist eine Leitvokabel und ein Hochwertbegriff der Zwischenkriegszeit, und das nicht nur im kulturkonservativen, politisch rechten Lager. Seit dem 19. Jahrhundert wurden in Deutschland Gemeinschaft und Gesellschaft immer öfter als Opposition gedacht. Man empfand sich gegenwärtig in einer säkularisierten, industrialisierten, bürokratisierten und arbeitsteiligen Gesellschaft und sehnte sich zurück nach einem gemeinschaftlich religiös geborgenen, agrarisch unentfremdet diffusen „irgendwie Davor“.

1887 theoretisiert Ferdinand Tönnies dieses vage kulturkritische Krisengefühl mit einem grundlegenden systematisch wissenschaftlichen Anspruch in seiner soziologischen Studie Gemeinschaft und Gesellschaft, die freilich erst ab der zweiten Auflage von 1912 ihre durchschlagende Wirkung entfaltete. Tönnies betonte 1912 im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Studie, dass diese in der Analyse säuberlich separierten Begriffe als wissenschaftlich abstrahierende Konstrukte zu verstehen seien, während sich in der realen Lebenswelt immer Mischungen fänden und viele Gemeinschaftsformen innerhalb der Gesellschaft denkbar seien. Aber auch wenn sein Werktitel ja nicht agonal oppositioniert Gemeinschaft gegen Gesellschaft oder hegemonial schichtet Gemeinschaft über Gesellschaft, sondern Gemeinschaft mit der Gesellschaft durch ein scheinbar gleichberechtigtes neutrales „und“ verkoppelt, so schimmern in seinen analytisch gemeinten Beschreibungen doch deutliche Wertungen und eine klare Hierarchie durch.  Während die Gesellschaft bei Tönnies modern, bürgerlich, vereinzelnd, kalt und kapitalistisch aussieht, scheint seine Gemeinschaft vormodern, agrarisch organisiert, ein heimelig warmes Geborgenheitsversprechen zu formulieren.

Sprach man nun nach 1918 über Gemeinschaft und Gesellschaft, verquickten sich die diffusen kulturkritischen Krisenstimmungen der Vorkriegszeit und die sich wissenschaftlich fühlende Tönnies-Rezeption häufig mit Argumentationsmustern der Kriegspublizistik. Denn in der Rede von der Gemeinschaft erinnerte und beschwor man in der Weimarer Republik oft jetzt auch das sogenannte Augusterlebnis der ersten Kriegstage, nachdem Kaiser Wilhelm II. in der Burgfriedensparole verkündet hatte, er kenne keine unterschiedlichen Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Hier gewann das holistische Gemeinschaftsdenken eine nationale Dimension; die Idee der Volksgemeinschaft bekam Konturen.  In den kulturkriegerischen Argumentationsfiguren ließen sich Gemeinschaft und Gesellschaft nun mit anderen Begriffsketten verkoppeln und aggressiv nach außen auf den Kriegsgegner applizieren.

Gérard Raulet hat darauf hingewiesen, dass das moderne Reden über Gemeinschaft nie eine faktuale Tatsachenbeschreibung, sondern immer eine utopisch imprägnierte Fiktion gewesen ist.  Besonders dringlich alarmistisch und dynamisierend konnten diese Gemeinschaftsutopien in der Weimarer Republik aber werden, weil man vielfach argumentierte, dass man die Gemeinschaft ja unmittelbar zuvor schon einmal kurz dilatorisch erlebt hätte in den ersten Kriegstagen. Sie schien sich also doch realisieren zu lassen. Dass das sogenannte Augusterlebnis sozialhistorisch betrachtet allerdings eher eine selbst stimulierende Angelegenheit bildungsbürgerlicher Schreibtischsoldaten gewesen war, und die Stimmungen auf der Straße und erst recht an der Front sehr viel ambivalenter waren, haben geschichtswissenschaftliche Forschungen der letzten Jahre hinlänglich herausgearbeitet.  Gleichwohl blieben im Selbstverständnis der Zeitgenossen die zahlreichen Gedichte, Zeitungsartikel, Vorträge, Broschüren, Essays und Schriftenreihen des Kulturkriegs ein materialer Beweis der realisierten Kriegsgemeinschaft, dokumentiert und aufbewahrt im bürgerlichen Bücherschrank.

Die Rede von der Gemeinschaft ist während der Weimarer Republik also keine Beschreibung eines Ist-Zustandes, sondern in der Erinnerung an 1914 eine Verheißungsvokabel für die Zukunft und eine politische Mobilisierungskategorie.  Indem man sich auf Tönnies berief, gab man den eigenen weltanschaulichen Ausführungen scheinbar einen wissenschaftlichen Anspruch. Und indem man das Augusterlebnis evozierte, suggerierte man die prinzipielle Realisierbarkeit von Gemeinschaft.

Wenn Gemeinschaft nicht etwas ist, das man hat, sondern ersehnt und herbeizuführen versucht, indem man darüber redet, sollte man sich dieses Reden über Gemeinschaft genauer anschauen. Die Geschichtswissenschaften kontrastieren in erhellender Weise in den letzten Jahren die Volksgemeinschaftsvorstellungen vor und im Nationalsozialismus mit ihrer Praxis und schauen sich hier in Sonderheit festliche Rituale, Verwaltungsakte und sich selbst ermächtigende Gewaltgemeinschaften der Ausgrenzung und des Völkermords genauer an.  Dass diese soziale Praxis aber nicht nur begleitet wird von Sprachhandlungen, sondern in vielen Fällen erst performativ durch diese versucht wird herzustellen, geriet in den historiographischen Forschungen allerdings gelegentlich in den Hintergrund. Hier sieht das interdisziplinäre Projekt gemeinsam mit der Politologie und der Histoire des idées vor allem auch eine kulturgeschichtlich interessierte Literaturwissenschaft in der Pflicht, die rhetorischen Begleiterscheinungen und literarischen Gründungsakte einer Ästhetik der Gemeinschaft genauer zu untersuchen.